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04. Jan 2013 (N69)
Kürzlich trafen der Mann und ich Frau T. im örtlichen Supermarkt, sie sah nicht gut aus. Die berufliche Belastung wäre so schlimm gewesen, das hohe Pensum, die ganze Arbeit wäre beim besten Willen nicht innerhalb der Zeit zu schaffen, der ständige Druck kaum auszuhalten. Deshalb wäre sie derzeit auch krankgeschrieben, Burnout, sagt der Arzt!
– aber Mitte Januar, da will sie wieder voll einsteigen. Frau T. ist Reinigungskraft an einer Grundschule.
12:26h
Isabel Bogdan sagt:
Kann es sein, dass die Diagnose "Burnout" irgendwie verwässert? Das war doch mal etwas, wo man mindestens ein halbes Jahr krankgeschrieben war, was meistens mit ernsthaften Depressionen einherging und so weiter. Von "kürzlich" bis "Mitte Januar" klingt es eher nach überarbeitet oder so, aber nicht nach einem echten Burnout. Aber ich bin natürlich weder Mediziner, noch kenne ich Frau T., noch verstehe ich irgendwas von Burnout, Gott sei Dank.
12:30h
serotonic sagt:
Wir trafen sie kürzlich, krankgeschrieben ist sie wohl schon länger.
12:35h
creezy sagt:
Nach Umstrukturierung sollen die Mitarbeiter im CustomerCare bei meinem Arbeitgeber mindestens 100 Calls am Tag machen. Das sind dann 100 Gespräche à maximal 5 Minuten. Gleichzeitig aber die Servicequalität bedienen. Bei Produkten für die so mancher Kunde eine halbe Stunde Erklärung verlangt. Hochgerechnet können diese Mitarbeiter keine Pause mehr machen.
Wenn sie krank sind, sollen sie noch am gleichen Tag vom Teamleiter angerufen werden, damit er mit seinen Nachfragen bezüglich ihrer Wiederkehr und der Information, was ihr Ausfall für ihr Team bedeuten würde, ordentlich Druck machen.
Die Menschen arbeiten im Schichtdienst. Im Großraumbüro ohne Lüftungsanlage. Toilettengänge sind in den Pausenzeiten zu verrichten. Dafür erhalten sie 1.500 Euro für eine 42,5 Stundenwoche plus Fahrtkostenpauschale (d.h. da muss ALG I durch ALG II aufgestockt werden.) Nur Jahresverträge. Nach dem zweiten Jahresvertrag kann man sich sicher sein, wird nicht entfristet sondern wird man gegangen.
12:46h
serotonic sagt:
Da weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Das ist so offensichtlich weder machbar, noch sinnvoll, noch menschlich, dass sich jedes weitere Wort erübrigt. (Und wenn eine Studie sagt, dass Frau T. ein Durchschnittsklassenzimmer in X Minuten sauber zu bekommen hat, es heute aber nun mal regnet … tja.)
12:58h
Kiki sagt:
Ich frage mich immer häufiger, ob ich die Grosse Revolution mit „A la lanterne!“ wohl noch erleben werde in meinem restlichen Leben. Nicht, daß ich sie mir freudig herbeiwünschen würde. Aber fällig ist sie. Wie wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren alle vorangegangenen menschlichen, zivilsatorischen und nicht zuletzt sozialen Errungenschaften in die Tonne gekloppt und einen Großteil der Bevölkerung anlasslos ins Prekariat getrieben haben, das ist schon bemerkenswert.
13:29h
creezy sagt:
@Kiki
Sie ist längst fällig. Mich wundert so sehr, warum der Deutsch das mit sich machen lässt.
13:35h
Marc sagt:
"Burnout" zählt zu den Worten, von denen ich 2013 nicht mehr so überschwemmt werden möchte wie im vergangenen Jahr.
Wenn es danach geht, hat jeder Zweite in meinem beruflichen Umfeld mit Burnout zu kämpfen…
14:20h
anjam_dd sagt:
Die Vorgaben, die Reinigungskräfte von ihren Arbeitgebern bekommen, erlebe ich hier in der Firma ständig. Vom Auftraggeber wird vorgegeben, in welcher Zeit ein Schreibtisch gereinigt, Papierkörbe geleert, Fußböden gereinigt werden müssen. Sonderleistungen wie das Reinigen der Trennwände werden nur alle paar Monate durchgeführt und entsprechend anders bewertet. Diese Reinigungsleistungen werden ausgeschrieben und Dienstleister bewerben sich darauf. In der Regel erhält den Auftrag, wer das günstigste Angebot abgibt.
Dass diese Dienstleister ihre Mitarbeiter schlecht bezahlen und behandeln ist ein allgemein akzeptiertes Übel. Ich sehe hier viele Reinigungskräfte nur einmal; die kommen zum Probearbeiten und tauchen danach nie wieder auf, weil sie das Pensum von vornherein nicht schaffen können.
Es herrscht ein rauer Ton in dieser Branche und es wundert mich, warum es dort nicht häufiger knallt. Viele Dienstleistungsunternehmen wissen um die Not ihrer Mitarbeiter, die auf diesen Job angewiesen sind, und beuten sie gnadenlos aus. Dass Leute bei derart hoher Belastung und diesem Druck irgendwann "ausbrennen" ist für mich nachvollziehbar. Ich denke nicht, dass der Arzt hier den Begriff Burnout überstrapaziert hat. Jede Krankengeschichte mit Burnout zu beschreiben ist natürlich auch nicht in Ordnung.
14:28h
serotonic sagt:
creezy, mir dünkt, dass sich das der Mensch überall auf der Welt gefallen lässt. Weil man überall lernt, dass mans schon schafft, wenn man nur will. Weil wir unseren Wert mittlerweile sogar selbst daran bemessen, wie viel (und kaum mehr was) wir leisten.
Marc, wenn ich mich in meinem Freundeskreis umschaue, ist die Quote auch verdammt hoch. Ich kenne aber kaum jemand, der grundlos auf dem Zahnfleisch geht – das was anjam_dd schreibt, erlebe ich branchenübergreifend und in jedem Lohnsektor.
14:42h
Christian sagt:
Aus einer mir bekannten Schule weiss ich, dass eine Reinigungskraft für ein Klassenzimmer inkl. Abwischen von 14 Schultischen mit Stühlen, eines Pultes, das Saugen des Teppichs in der Leseecke, Säubern der Regale und des Bodens, Staubputzen von 6 Computern und der Tische drumrum im Gruppenraum 10 Minuten haben. In den Regalen stehen Dinge, liegen Bücher, sind Unterrichtsergebnisse usw. Oh Wunder, es reicht nicht.
Die Kräfte werden nicht von der Schule, sondern von der Stadtverwaltung eingestellt.
Die Stellen sind EU-weit ausgeschrieben, wer das günstigste Angebot macht bekommt den Job.
Soweit ich weiss, arbeiten die meisten Putzkräfte inzwischen als selbstständige Subunternehmer für irgendeine Firma, damit die sich nicht um so lästige Dinge wie Tarife oder so halten muss. das ist ja von Regaleinräumern im Supermarkt bekannt.
Die Stadtverwaltung hat den Etat gerade um weitere 12% gekürzt, weil die Stadt ja sparen muss.
Mich wundert ein BurnOut bei einer Reinigungskraft überhaupt gar nicht.
14:58h
Frau Meike sagt:
Wir hatten früher ein Reinigungsunternehmen, das uns einmal die Woche jemanden schickte, um hinter uns her zu putzen.
Diese Mitarbeiter erzählten dann und wann ein bisschen was von ihrem Arbeitsalltag. Mobbing, lange Arbeitswege und -tage, Überstunden, mickrige Stundenlöhne, respektlose Kunden.
Ich putze die Wohnung jetzt wieder selber und was soll ich sagen? Die Staubmäuse sind eigentlich ganz friedlich, solange sie nur jeden Tag ihr rohes Fleisch bekommen.
08:21h
FrauKatz sagt:
Oh ja, die Mär des Wollens.
Man kann alles schaffen, hörst Du, alles! Man muss nur wollen. Die Umstände sind kein Hindernis für echtes Wollen. Dann wird man auch als Querschnittsgelähmter professioneller Ballett-Tänzer.
Wenn man es nicht schafft, dann hat man nicht genug gewollt und ist selbst Schuld. Kein Mitgefühl notwendig, man hätte ja wollen können.
„Du kannst Präsident werden!“ ist an sich ja ganz schön, aber das vorwurfsvolle „Warum bist Du eigentlich nicht Präsident?“ pervertiert das Ganze dann doch ein wenig.
09:46h
serotonic sagt:
Christian, das ist so völlig beknackt und abwegig, dass es immer wieder erstaunlich ist, dass es zumindest eine Zeit lang den Anschein hat, es würde funktionieren.
Frau Meike, ja.
FrauKatz, ja.
10:22h
Christian sagt:
Es scheint nicht nur so, als würde es funktionieren. Es funktioniert.
Denn weder die Reinigungskräfte noch die angestellten Lehrer definieren, was funktioniert, sondern die Stadtverwaltung, genauer die entsprechende Abteilung.
Ich hatte eine lange Unterhaltung mit einer mir bekannten Lehrerin und einem mir bekannten Stadtratsmitglied. Sie sagte "Es ist nicht geputzt, wir müssen selber putzen" und er sagte "Kann nicht sein, das wüsste ich ja"
Und da sie ihm offiziell nichts sagen darf, weil sie den Dienstweg einhalten muss war die Unterhaltung dort auf der praktischen Ebene beendet.
Auf der theoretischen ging sie noch etwas weiter, da er das Problem überhaupt nicht sah, aber das ist eine andere Geschichte.
11:31h
adelhaid sagt:
am letzten arbeitstag vor den kohleferien habe ich unsere reinigungskraft getroffen. es war freitag gegen 17 uhr und sie trug eine postlerausstattung. sie kam am freitagnachmittag (obwohl ich morgen um kurz nach sieben zu meinem arbeitsbeginn schon reinigungskräfte im gebäude gesehen hatte), damit sie nicht am 24. morgens um 4 kommen müsste. damit kreierte sie sich 5 tage ohne büroputzen (denn auch in den kohleferien, wo hier niemand arbeitet, werden die leeren papierkörbe geleert).
unsere reinigungskraft ist eine sehr sehr dünne frau, die wir ende 50 aussieht, aber vermutlich jünger ist. da sie an dem morgen schon da war, nach der ersten phase des reinigens die weihnachtspost ausgetragen hat und direkt danach wieder zum putzen kam, wollte sie nicht lange mit mir sprechen, da sie, wie sie selbst sagte, sonst nicht mehr weitermachen könnte vor lauter erschöpfung.
es fehlen einem manchmal die worte.