Tagebuch

Die Monate Januar bis Mai im Rückblick

*tipp­tipp*
Mikro­fon­test, eins-zwo, eins-zwo?
*räus­per*

Höl­le, wie lan­ge haben wir uns nicht mehr gespro­chen? Also abseits eines Jah­res­rück­bli­ckes? Las­sen Sie mich kurz nach­schau­en: Ein Jahr, vier Mona­te. Man könn­te glatt behaup­ten, es wäre ein­ge­ris­sen. Das geht so natür­lich nicht, das gan­ze schö­ne Leben undo­ku­men­tiert; ich errei­che ja lang­sam auch so ein Alter, man wird ver­gess­lich und plötz­lich steht man am Ende des Jah­res da und kramt Erin­ne­run­gen aus den Hirn­win­dun­gen wie Krü­mel aus der Couch­rit­ze. Nope. Ich möch­te das nicht. 

Januar

Ich begin­ne ein neu­es Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis im alten Job und bin fort­an als Yoga­leh­re­rin in Fest­an­stel­lung tätig. Sie müs­sen sich das unge­fähr so vor­stel­len, als wür­de man eine neue Del­phin­art ent­de­cken. Oder einen Super­jack­pot gewin­nen. Oder nach einer durch­zech­ten Nacht ein Ein­horn aus sei­ner Schlaf­fri­sur ber­gen. So sel­ten ist das, und ich habe Herz­ra­sen und Schmet­ter­lin­ge im Bauch vor lau­ter Glück und Erleichterung. 

Ich begin­ne einen Selbst­be­haup­tungs­kurs bei der Bon­ner Poli­zei und ler­ne erstaun­li­che Din­ge über mich selbst, wie man ande­ren effek­tiv auf die Müt­ze haut und HALTSTOP brüllt, dass die Wän­de wackeln. Außer­dem neh­me ich die Suche nach einer Psy­cho­the­ra­peu­tin in Angriff und eine Hand­voll pro­ba­to­ri­scher Erst­ge­sprä­che wahr. Nach­dem mir von der einen Tan­te nach zwan­zig Minu­ten kur­zer­hand pas­siv-aggres­si­ves Ver­hal­ten beschei­nigt und von der ande­ren auf­grund eines blo­ßen Fra­ge­bo­gens eine his­trio­ni­sche Per­sön­lich­keits­stö­rung ver­dachts­dia­gnos­ti­ziert wird, zei­ge ich ers­te see­li­sche Abnut­zungs­er­schei­nun­gen. Nicht gese­hen wer­den ist kein Spaß, falsch beur­teilt zu wer­den noch keinspaßer.

Die ers­ten Wochen des Jah­res ver­ge­hen dar­über hin­aus rela­tiv ereig­nis­arm: Ich las­se mir den Haar­an­satz nach­blon­die­ren und bin noch bar jeder Vor­stel­lung, dass das letz­te Mal für lan­ge Zeit sein wird, dass eine Fach­kraft mein Haupt pro­fes­sio­nell aufhübscht. 

Februar

Die Psy­cho­the­ra­peu­ten­su­che erfährt einen wei­te­ren Tief­punkt: Da ist die­se eine The­ra­peu­tin, bei der wirk­lich ALLES stimmt, aber, oh: Kein The­ra­pie­platz frei, zumin­dest nicht inner­halb der nächs­ten sechs Mona­te. Ich neh­me einen War­te­lis­ten­platz in Anspruch und suche mun­ter wei­ter. Eine Woche spä­ter las­se ich mir aus Grün­den die Mam­ma schal­len und muss erst wie­der in andert­halb Jah­ren zur Kon­troll­un­ter­su­chung. Gei­le Sache, das. 

Der Mann und ich fah­ren übers Wochen­en­de mit dem Zug nach Ams­ter­dam, um eine Acid-Par­ty zu besu­chen. Ich tan­ze etwa sechs Stun­den am Stück und habe eine extrem gute Zeit, wenn auch ein klit­ze­klei­nes Pro­blem mit den Waden­mus­keln am dar­auf­fol­gen­den Tag. Thank fuck for Grachtenfahrten. 

Die Selbst­ver­tei­di­gungs­sa­che läuft immer bes­ser und ich über­le­ge, ob man mit 39 eigent­lich noch mit dem Kick­bo­xen anfan­gen kann. Außer­dem gehe ich mit E. nach lan­gen Jah­ren eis­bahn­frei­er Exis­tenz Schlitt­schuh­lau­fen und neh­me neben einem blau­en Knie das Grin­sen eines Honig­ku­chen­pfer­des mit nach Hause.

März

Ich fin­de nach nur zwei Mona­ten und drölf­zig Frust­er­fah­run­gen eine Psy­cho­the­ra­peu­tin. Ganz ehr­lich: Ich hab’s auch drin­gend nötig, sta­bil blei­ben ist har­te Arbeit, da ist es ein­fach wich­tig, ein­mal in der Woche jeman­den zu sehen, der … HALLO CORONA! 

SARS-CoV‑2 hält in Deutsch­land Ein­zug und stellt auch mein Leben auf den Kopf, ins­be­son­de­re den schö­nen neu­en Yoga­leh­rer­job. Erst ergrei­fen wir Hygie­ne­maß­nah­men, dann schlie­ßen wir das Stu­dio. Weil wir noch nicht wis­sen, wie es wei­ter­geht, wol­len wir ein paar Yoga­stun­den für unse­re Kurs­teil­neh­me­rin­nen auf­neh­men, und ich sprin­ge erst über mei­nen eige­nen Schat­ten und dann vor eine Kame­ra. Gen Ende des Monats begin­nen wir, unse­re Yoga­stun­den live zu strea­men. Anstatt direkt mit Men­schen zu inter­agie­ren, unter­rich­te ich fort­an in eine iPho­ne-Kame­ra hinein. 

Der Selbst­be­haup­tungs­kurs fin­det nicht mehr statt. Statt Fit­ness­stu­dio und Bow­lin­gare­na ver­su­chen der Mann und ich uns an Spie­le­aben­den. Unser fan­cy Hoch­zeits­tag-Din­ner wird zum But­ter­brot. Ich neh­me es gelas­sen und glei­te – hoch­funk­tio­nal wie immer – in das ers­te depres­si­ve Tief seit dem Klinikaufenthalt.

April

Die Kran­ken­kas­sen geneh­mi­gen Video­sprech­stun­den und ich kom­me wie­der in den Genuss, mei­ne Gedan­ken mit­hil­fe eines fach­kun­di­gen Men­schen zu beleuch­ten und zu ord­nen. Wie krass hilf­reich per­sön­li­cher Aus­tausch in einem geschütz­ten Umfeld doch ist! Ein mir bis­lang völ­lig frem­des Konzept. 

Am Oster­wo­chen­en­de ist mir dau­ernd schwin­de­lig. In den dar­auf­fol­gen­den Tagen auch. Und am Wochen­en­de danach auch. Und über­haupt wird das im Lau­fe des April nicht bes­ser. Es fühlt sich ein biss­chen so an, als wäre ich betrun­ken, aller­dings ohne einen Trop­fen Alko­hol getrun­ken zu haben. Ich spre­che mit mei­ner Haus­ärz­tin und ver­ein­ba­re Arzttermine.

Wäh­rend­des­sen ruckelt sich die Live­stream­sa­che ein, und ich habe Spaß am Unter­rich­ten mit Head­set. Auch wenn es sowas­von crin­ge­wor­t­hy ist, beim Zurecht­schnei­den der Auf­nah­men fürs Archiv der eige­nen Stim­me lau­schen zu müs­sen. Brrr. (Hihi.)

Dank besag­ter Auf­nah­men stel­le ich fest, dass mein Haar­an­satz mitt­ler­wei­le so ver­bo­ten aus­sieht, dass ich mich zum Han­deln gezwun­gen füh­le. Ich fär­be mir selbst die Haa­re ver­meint­lich mit­tel­blond und freue mich über das durch und durch kup­fer­ro­te Ergebnis.

Mai

Der Neu­ro­lo­ge ver­ord­net mir ein Schä­del-MRT. Anstatt der geplan­ten zehn Minu­ten ver­brin­ge ich 16 Minu­ten in der Röh­re, bevor mir Kon­trast­mit­tel für eine wei­te­re Run­de ver­ab­reicht wird. Eine Run­de, die fünf Minu­ten dau­ern soll­te. Las­sen Sie es mich so sagen: Es ist gut zu wis­sen, wie man mit auf­wal­len­den Panik­at­ta­cken umgeht, wenn man nach wei­te­ren 14 Minu­ten immer noch dem Pochen und Tickern des Magnet­re­so­nanz­to­mo­gra­phen lauscht. Im anschlie­ßen­den Arzt­ge­spräch wird mir erläu­tert, dass da etwas an mei­ner Schä­del­ba­sis sei, was da so nicht hin­ge­hört. Wahr­schein­lich ein Gefäß. Oder ein Tumor. Odero­dero­der, man hät­te bit­te ger­ne die Bil­der vom Schä­del-MRT aus dem letz­ten Jahr. Ich rei­che die Auf­nah­men ein und bekom­me tele­fo­nisch gan­ze fünf wei­te­re Ver­dachts­dia­gno­sen zurück, die alle »sicher nicht für den Schwin­del ver­ant­wort­lich« und »wahr­schein­lich harm­los« sei­en; »aber ich sehe schon, Sie sind nicht begeis­tert«. Ich habe womög­lich einen hoch­ka­rä­ti­gen Schreianfall. 

Ein paar Tage spä­ter bin ich unend­lich dank­bar für den Neu­ro­lo­gen, der mit mir Fak­ten spricht, statt halb­ga­re Ver­dachts­dia­gno­sen an eben­so halb­ga­ren Beru­hi­gungs­flos­keln dar­zu­rei­chen. Auf sei­nen Rat hin ver­ein­ba­re ich einen Ter­min in der Uni­kli­nik für Anfang Juni, bei dem ich erfah­ren wer­de, dass es sich um eine Norm­va­ri­an­te eines Blut­ge­fä­ßes han­delt, um »eine Lau­ne der Natur«. Ha! Mit Lau­nen ken­ne ich mich aus. In der zwei­ten Mai­wo­che ver­schwin­det der Schwin­del unge­fähr so plötz­lich, wie er gekom­men ist.

Aber, ach: Ich füh­le mich zuneh­mend ein­sam und ver­mis­se my bes­tie nach mitt­ler­wei­le fünf Mona­ten so arg, dass wir beschlie­ßen, uns zu einer Social-Distancing-Wan­de­rung zu tref­fen. Wir haben den schöns­ten Tag ever und neh­men uns am Pfingst­wo­chen­en­de ein­fach noch­mal Nach­schlag von­ein­an­der. Mein Herz könn­te kaum vol­ler sein.


Landschaftsaufnahmen: See im Sonnenuntergang, Hafenanlage mit Booten im Nebel, Panoramaaufnahme eines grünen Kornfeldes unter blauem Himmel
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