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04. Aug 2009 (N42)
Das Gefühl, wenn man in so einem Wartezimmer (das in diesem konkreten Fall viel mehr ein Flur ist, aber dazu kommen wir später) sitzt und erwartet, in Kürze mit Damokles zu ringen, weil einem die Brust durchleuchtet und die Lunge getestet wird, gehört ja eher zu denen, die ich nicht so gut leiden mag.
Ich mein, da kann man oft genug die coole Sau markieren, gewitzt über Alltagsbühnen stolzieren und das Grinsegesicht stets im Anschlag halten, wenn man weiß: Hey, ich habe diesen Husten jetzt ein und ein halbes Jahr, und die Sache mit dem Atmen, die war früher irgendwie deutlich eher töfte, dann stützen einen die bisherigen Befunde und Ärztemeinungen kaum, während man seinen Steiß auf unbequemes Warteleder presst. Wenn man weiß, dass da was nicht ok ist, dann weiß mans halt; schließlich sitzt man ja nicht erst seit gestern im eigenen Körper. Man kennt sich, sozusagen.
Wenn ich also derart in meinem Körper sitze, und der mit mir in einem Wartezimmer, dann bin ich gerne in Gesellschaft von Menschen, die sich nett was zu erzählen haben. Das sonst übliche schweigsame Rumgesitze hinter Lesezirkelpappe ist Futter für meine hyperaktive Grundneigung, es lässt mich immer in Erinnerung an Zeiten schwelgen, in denen ich noch mit enthusiastischem Kauen meiner Nägel kompensierte, was mir auf die Nerven drückte. Zeiten in denen ich das Zusammenreißen an sich noch nicht so unglaublich gut drauf hatte. Entstehen aber – an einem Tag wie heute – Gespräche unter den Wartenden, dann ist das alles irgendwie leichter. Schon ab 2 Sprechenden entsteht ein Wir-Gefühl, das uns irgendwie zu Verbündeten gegen die kleinen Zipperlein und großen Diagnosen macht.
Kommt natürlich auch ganz auf die Menschen an. Man sucht sich seine Mitwartenden ja nicht aus, und zugegebenermaßen ist die Quote an erträglichen Mitmenschen in Wartezimmern, die nebenher auch in der Lage sind, mir sprachlich und inhaltlich nicht extrem auf den Keks zu gehen, ausgesprochen gering.
… zurück nach Polen! Alleine!
lacht sie dem Mann mit der für diesen Sommermorgen viel zu dicken Strickjacke entgegen, während ich im Wartezimmer Platz nehme. Sie ist von der bezaubernden, ganz besonders raren Sorte, das sehe und höre ich sofort. Da hatte ich vielleicht eine Angst. Also nicht vor den Polen, um Gottes Willen
(sie zwinkert kokett) sondern vor den Emotionen! Ich war das letzte Mal schließlich in meiner Kindheit da.
Sie erzählt wie das so war, nach all den Jahren wieder den Ort zu sehen, in dem sie aufwuchs, und die Straßen entlang zu gehen, die einst ihr Schulweg waren. Es war alles so klein, viel zu klein. Erst als ich vor der Schule stand, da stimmten die Relationen wieder.
Es erleichtert mich, dass hier so eine lebhafte alte Dame sitzt, die zwar nach jedem Halbsatz nach Luft japst, aber eine Energie ausstrahlt, die ich jedem 15 jährigen, der nebenan vorm Rewe abzuhängen pflegt, von Herzen wünschen würde. Und ehe ich weiß, wie mir geschieht, erzählen die beiden älteren Herrschaften mir und sich, wie das alles so war, damals, und es langweilt mich wirklich nur mäßig.
Der Herr in der Strickjacke schäkert mit mir, und ich mache mit. Wenn er einmal kurz nicht hinsieht, nicken die Dame und ich uns zu, wir wissen beide warum, und so haben wir eine erstaunlich gute Zeit, während wir auf das Eintreffen des Arztes warten, der uns den Thorax röntgen soll.
Kommen wir zu dem Teil, an dem es wichtig ist zu wissen, dass das Wartezimmer eher ein Flur ist. Eine Art Atrium, sozusagen, ein rechteckiger Vorhof zu Umkleidekabinen, Röntgenlabor, WC, „Privat !“, Blutlabor und Mehrfachfunktionsraum inkl. Liege und Glaskasten zur Überprüfung der Lungenfunktion. Nur mäßig idyllisch das Ganze, und zu allem Überfluss nach oben hin mitnichten offen, sondern im Keller eines Mehrfamilienhauses im Stil der 50er Jahre befindlich. Was also fast noch fehlt, ist ein Mr. Hyde im Professorkostüm, der ab und zu zwischen den Räumen hin- und her huscht, und ich würde das sicherlich nicht erwähnen, wenn es so eine Person nicht geben würde. Nun gut, sie ist ein weiblicher Arzt, hat die 60 wohl grade überschritten, und das Huschen ist eher ein ausgeprägtes Humpeln – aber die schwere Persönlichkeitsstörung, die ist unübersehbar.
Wir sitzen also ausgiebig, wir 3 mit blendender Strahlungsaussicht, in Umgebung, die durchaus hübscher und freundlicher sein könnte. Zwei erzählen aus dem Leben (Das System hat sich ja auch nicht gehalten. Also die DDR.
– Ach je, DAS war ja vorauszusehen.
) und ich höre zu, alles ist am Verhältnis gemessen schön, und wir lächeln im Dreieck. Da Mr. Hydes Schwester jedoch jetzt schon das dritte Mal mit bösem Stechblick und verbissenem Kiefer an uns vorbeihumpelt, bemerkt die lebhafte Dame mit der Ausstrahlung, die einen insgeheim „Wenn alt, dann bitte genau so, keinen Deut anders“ denken lässt, auf laxe, aber nicht zu leise Art: Na, die hätt ja auch mal Guten Morgen sagen können.
Woraufhin der Strickjackenmann und ich deftig grinsen, während auf der anderen Seite ein leichter Rhythmuswechsel im Humpelschritt nicht zu verleugnen ist. Für die meisten Beteiligten ist die Sache mit der sauertöpfigen Laborantin damit gegessen, nur ich, ich denke noch einen Moment über meine Sympathie für alles Griesgrämige nach und verziehe innerlich mein zweites Gesicht.
Übrigens, auch ein Phänomen: Wenn man lange wartet, geht es einem dann fast zu schnell, wenn der unbekittelte und hochdynamische Arzt dann endlich erscheint. Herr X bitte in Kabine 1, Frau Z bitte in Kabine 2, Frau serotonic bitte in Kabine 3, und schon 3 Sekunden später sitzen wir wieder im Warteflur und harren unserer Röntgenbilder.
Wir warten also wieder, mehr oder weniger geduldig, und die alte Dame macht mir das Herz noch ein bisschen weicher. Sie erzählt davon, dass Sie ja immer gerne Auto gefahren ist, da, bei Brandenburg, 4-spurig sei die Autobahn gewesen, und keine Geschwindigkeitsbegrenzung weit und breit. Da habe ich ganz schön Vollgas gegeben!
Sie schweigt einen Moment, und hier müsste ich eigentlich aus stilistischen Gründen hinzudichten, dass ihr Blick sich verdunkelte, aber das lass ich mal ganz schön bleiben, denn ohne künstlich hinzugefügte Bitterkeit geht einem das ja gleich nochmal mehr ans Herz, wenn man genau hinschaut wenn Sie dann sagt: Ich würde gern nochmal hin. Aber das schaff ich nicht mehr.
, wenn Sie dann erzählt, dass sie das Auto 2005 an den Nachbarn verkauft hat, und es heute noch heimlich im Vorbeigehen streichelt. Sie zwinkert dabei, und ich lächle, während ich eine stille Träne herunterschlucke. Weil es doch meine Oma war, die etwas das letzte Mal nicht mehr geschafft hat und ich sie so arg vermisse. Der Arzt kommt wieder rein, nickt uns dreien zu, jedes Röntgenbild wäre voll in Ordnung, er hätte nichts zu meckern und gleich würde es mit der Lungenfunktionsprüfung weitergehen, aber einer nach dem anderen.
Ab hier sitze ich größtenteils dann doch alleine im Wartezimmer, aber es ist nicht mehr so schlimm, die größte Angst hat der Mann ohne Kittel mir in aller Öffentlichkeit genommen, und außerdem habe ich viel zu denken über Ärztinnen, die böser nicht gucken könnten, Männer in viel zu warmen Strickjacken und hinreißenden Frauen mit rosiger Haut und fast durchsichtig schillerndem Silberhaar, denen schon nach Halbsätzen die Puste ausgeht.
Ich versuche zu lesen. Doch kaum ist es mir gelungen, wieder Fuß zu fassen in der Geschichte von zwei jungen Männern, die den Erdball im Rahmen einer Wette gegensätzlich umrunden, kommt die lebhafte Dame von der Lungenfunktionsprüfung zurück, nur diesmal eher grau unter der feinen Haut. Sie sucht nach Halt, ringt nach Luft und teilt so laut es geht mit, dass sie keine mehr bekommt. Sprechstundenhilfen stürzen herbei, geben schneller Halt und Spray als ich aufspringen kann, und kurze Zeit später kaut die Dame an einem Stück Knäckebrot und spült es mit soeben gereichtem Wasser hinunter. Ich habe Diabetes.
erklärt sie mir, als müsste ich unbedingt darüber informiert sein, warum sie gerade jetzt ein kleines Frühstück zu sich nimmt. Ich nicke verständig, obwohl ich keine Ahnung habe.
Sie verlässt die Praxis, wir wünschen uns herzlich Glück, Gesundheit – Alles Gute!
– und kaum fällt die Tür hinter ihr ins Schloss, höre ich den Mr.-Hyde-Verschnitt im Labor gen Sprechstundenhilfe zischen: Schade, dass DIE nicht verreckt ist.
Noch bevor ich auch nur annähernd begreife und soeben Geschehenes fasse, bin ich es, die Histamin einatmet und japst. Schon nach der dritten Dosis brechen wir den Test ab, ich gucke erstaunt. Sind das nicht normalerweise 8 Stufen?
Zumindest meine ich mich zu erinnern, dass es acht Mal Seifengeschmack zu atmen galt, als ich das letzte Mal in diesem Glaskasten saß. Die Sprechstundenhilfe bejaht und hat diesen weichgespülten Gesichtsausdruck mit eingebautem Mitleidsseufzer drauf, der mir gerade mal scheißunangenehm ist. Ich will nicht krank sein, und schon gar nicht so angeschaut werden. Da war es mir ja fast noch lieber als jedermann sagte, dass ich doch to-tal ok sei und man darüber nachdenken müsse, ob das nicht irgendwie psychosomatisch wäre, das mit dem Husten und der schlechten Atmung.
So schlecht kanns aber nicht um mich bestellt sein, so denkt man zumindest für den Moment, wenn es dann beim Auswertungstermin in 3 Wochen bleibt. Ich bitte also nur um Ausdrucke des soeben Veratmeten und lasse mich kommentarlos wie bescheiden nach Hause schicken, wo die bisherigen Testergebnisse auf mich warten und mir beweisen, dass da jetzt gerade echt ein ordentlicher Knick ist, viel zu viel Widerstand, und ich weiß nicht, was das überhaupt heißt.
Für einen Moment versuche ich es als Vorteil zu sehen: Endlich einmal kann ich aufgrund dieser nachweisbaren Basis darum betteln, ernst genommen zu werden von den Herrschaften mit Medizinstudium im Rücken, die sich vielleicht insgeheim wünschen, ich würde mich schleunigst final amortisieren, sobald ich ihnen den Rücken zugedreht habe. Man weiß ja nie, was in so einem Kittel vorgeht, im Guten wie im Schlechten.
Dafür weiß ich aber, was in mir vorgeht, und Frohsinn geht deutlich anders – so viel kann ich schon mal verraten, am Ende eines solchen Tages, der so irre voll ist mit Menschen und Nachrichten und Fragen und dem bescheuerten wie fruchtlosen Versuch, trotz alldem das Pensum zu schaffen.
Und da verlangen die allen Ernstes in aller gefakten Freundlichkeit von mir, noch 3 Wochen still zu halten und geduldig abzuwarten, bis der behandelnde Arzt ausreichend geurlaubt hat, also mit Verlaub: Da tickt doch was nicht ganz sauber. Morgen früh erschleiche mir zu allererst mal ein bisschen Menschlichkeit in Form einer vorgezogenen Nachbesprechung, gewitztes Stolzieren auf Alltagsbühnen revisited, man kennt das ja.
3 Wochen emotionales Wartezimmer am Arsch.
08:44h
Etosha sagt:
Da tickt einiges nicht richtig, wenn Leute, die einem so verachtende Sätze ins perplexe Gedächtnis brennen, im Gesundheitssstem arbeiten dürfen, und wenn das so normal ist, dass kaum je einer aufspringt und in maximaler Lautstärke einen guten alten Satz brüllt: "Sie sollten sich was schämen!"
Ich hab selbst viel Zeit in Wartezimmern verbracht und davon einige Brandnarben in meinem Gedächtnis. Das System ist an einem Intellekt orientiert, der jeglichen gesunden Menschenverstand ausklammert. Wie sonst könnte man glauben, Instrumente und Methoden allein könnten heilsam sein, ohne eine wichtige Grundlage herzustellen: dass der Heilungswillige es mit aufmerksamen, zuversichtlichen und mitfühlenden Menschen zu tun hat.
Ich drück dir alle Daumen.
12:47h
serotonic sagt:
Nun ja, es handelte sich, wie sich noch herausstellte, um die Frau des Chefs. Da sacht ja eh keiner was, zumindest nicht laut, und man hatte sicherlich vergessen, dass ich als letzte Patientin noch in der Praxis lungerte.
Dankeschön für die Daumen :)
(Ich bin heute ihrer trotz wieder vor eine Wand gelaufen, ein Ansteig der Atemwegsresistance von läppschen 410% im Vergleich zum letzten Testwert, also bescheidene 310% vom Normwert sind anscheinend ein Grund, mir irgendetwas von Tagesform zu erzählen und meine „subjektive Empfindung“, ganz beschissen atmen zu können, nett zu belächeln. Das System ist sowasvon am Arsch.)
13:21h
skinunder sagt:
Nicht nur sehr gut beobachtet, sondern auch großartig beschrieben, vielen Dank - was für eine Bereicherung dieses einen Tages…
Viele ähnliche Erfahrungen wie die Ihren - beider Art - haben mich wegen eben auch gegensätzlicher Erlebnisse mit Teilen des "Systems" aber nicht resignieren lassen.
Obwohl es dazu gute Gründe gegeben hätte.
"Sie ist von der bezaubernden, ganz besonders raren Sorte…" Genau solche alten Leutchens habe ich auch in mein Herz geschlossen. Und wenn man danach guckt, findet man sie auch.
Greetz and thx
PS So würde ich auch gern schreiben können ;-)
10:27h
Etosha sagt:
Oh! Mift!
Hier ist mir zu viel Öffentlichkeit, E-Mail ist unterwegs.