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07. Feb 2011 Heimat.
Meine Oma hatte ein Häuschen. Es war sehr klein – so klein, dass es nur Platz für eine Wohnstube, eine Küche, ein Schlafzimmer, ein Gäste-WC, Treppe, Bad, Flur und natürlich für meine Oma bot. Es hatte eine herrliche Lage, direkt im Hang, und von seinem Garten aus konnte man über das ganze Dorf blicken. In diesem Garten stand – tagein, tagaus – meine Oma, den Kittel eng um die Hüfte geschlungen, und pflegte ihr Gemüsebeet. Früher mag sie gemeinsam mit Ihrem Mann dort gestanden haben, doch daran erinnere ich mich nicht, denn er starb, als ich erst wenige Wochen alt war. Aber ich weiß, dass er die drei Obstbäume pflanzte, deren Früchte ich direkt vom Boden aß, während ich meiner Oma beim energischen Beschreiten ihres Reiches zuschaute.
Obwohl meine Oma nicht mehr arbeiten ging, hatte sie den ganzen Tag zu tun: Sie kochte, hängte Wäsche auf die Leine, ermahnte mich, wenn ich beim Toben auf der Außentreppe zu wild wurde, und kratzte vermooste Fugen sorgfältig mit einem Messer sauber.
Hin und wieder, wenn sie mit der Arbeit fertig war, nahm sie mich bei der Hand und ging mit mir den Rest des Hanges hinauf, um das Grab meines Opas zu besuchen. Ich freute mich immer auf diese Grabbesuche, denn dann durfte ich alleine, nur mit einer Gießkanne bewaffnet, über den Friedhof schweifen und in aller Ruhe die mysteriösen Gräber unbekannter Menschen bewundern. Meine Oma brachte währenddessen mit einer kleinen Harke die Erde auf Opas Grab in Form und entzündete ein neues Grablicht. Nach getaner Arbeit sprachen wir gemeinsam ein leises Vater Unser und riefen „Tschüss Opa!“, um wieder Hand in Hand die gewundenen Straßen hangabwärts zu gehen.
Auf dem Weg machten wir immer wieder Halt, denn hinter jedem Gartentor wartete ein neuer Plausch mit einem alten Nachbarn; jeder kannte jeden, und meiner Oma hatte man immer besonders viel zu erzählen.
Nachts schlief ich in ihrem Bett – auf Opas Seite natürlich – und während wir das Abendgebet sprachen, bewunderte ich stets die Überdecke aus Chiffon, die sie nur locker über ihre eigene Betthälfte zurückgeschlagen hatte. Sie blieb dann noch einen Moment bei mir sitzen und streichelte meine Hand, bevor sie den Kittel auszog und wieder hinunter in die Wohnstube ging, um die Musiktruhe einzuschalten – aber nicht ohne mir zu versprechen, die Tür einen Spalt offen zu lassen, damit ich mich im Dunkeln nicht fürchten musste. Aber ich fürchtete mich gar nicht, denn ich wusste: Ich bin in Omas Haus, und es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich sicherer wäre.
Am Morgen weckte mich schon früh der Duft von frisch geschnittener Petersilie, und ein neuer Tag zwischen Keller, Garten und Wäscheterrasse konnte beginnen.
Als ich dann 5 Jahre alt war, meine Mutter einen neuen Mann heiratete und ein neues Leben beginnen wollte, verkaufte meine Oma ihr Häuschen, um unserer Familie in 40 Kilometern Entfernung ein großes, neues Heim mit Garten zu ermöglichen. Sie zog in die winzige Einliegerwohnung im Erdgeschoss, erhielt lebenslanges Wohnrecht und die Aufgabe, sich nach der Schule um mich zu kümmern, während meine Eltern Vollzeit arbeiteten. Opas Grab besuchten wir alle paar Monate.
Nachdem 6 Jahre vergangen und die Ehe meiner Eltern unwiederbringlich zerrüttet war, verkauften sie das große, neue Haus, um die Schulden nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen. Meine Oma zog in eine kleine Wohnung ohne Garten in einer 600 Kilometer entfernten Stadt, um in der Nähe ihrer weiteren Verwandten leben zu können. Ihre kleine Rente besserte sie von nun an auf, indem sie das Haus ihres Vermieters putzte. Zu Opas Grab fuhren wir nur noch, wenn sie alle paar Jahre zu Besuch kam.
Einige Jahre später starb ihr Bruder, plötzlich und unerwartet. Nachdem die Familie, auf diese Weise ihres Rückgrats beraubt, immer mehr auseinanderfiel, blieb meiner Oma nur noch ihre Schwester. Schließlich wurde meine Oma krank. Zu Opas Grab fuhr niemand mehr.
Am Ende, als ich 27 Jahre alt und sie nur wenige Tage davon entfernt war, 80 zu werden, starb meine Oma, allein auf der Station eines Stadtkrankenhauses und ohne dass ihr jemand die Hand gehalten hätte.
Nun, was ist Heimat?
Heimat ist ein weiß getünchter Keller, in dem es gleichermaßen nachWaschmittel und feuchten Mauern riecht. Ein Mirabellenbaum, in dessen Schatten eine Katze schläft. Die zum Gruße erhobene Spitzhacke im Nachbargarten. Ein tiefes Spülbecken aus beschädigter Emaille, Schürzen auf Haken und Prilblumen an der Wand. Schwere, dunkle Erde, in der süße Bohnen und bunte Kräuter heranwachsen. Und ein großes Bett unter dem eigenen Dach.
Heimat ist, was meine Oma für mich aufgab, noch bevor ich es buchstabieren konnte.
12:32h
creezy sagt:
Du Süße! Soo schön …
12:40h
isabo sagt:
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12:58h
Kiki sagt:
Ja toll, ich heule Rotz und Wasser hier, die Tastatur kann ich doch wegschmeissen, ich kann so nicht arbeiten! #schneuz
13:01h
Jamie sagt:
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13:02h
Christian sagt:
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13:02h
giardino sagt:
Haus und Garten meiner Großeltern, wo ich meine Grundschulzeit über immer den Mittag verbrachte, bis meine Eltern von der Arbeit kamen, hatten die gleiche Bedeutung für mich.
Ob wir unseren Neffen/Nichten/Enkeln/… auch einmal eine solche Idee von Heimat vermitteln werden?
13:22h
Anke sagt:
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13:25h
nutella_monste sagt:
Da werden Kindheitserinnerungen wach.
13:33h
Armin sagt:
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13:34h
OddNina sagt:
Ein schöner Text..
13:48h
Anja sagt:
<3
14:11h
Sahanya sagt:
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14:13h
Lu sagt:
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14:33h
Textzicke sagt:
*schluck*
Du hast sie sehr lieb gehabt. Aus Gründen. Und sie Euch so sehr, dass sie Heimat dafür aufgab. Sie war eine große Frau und es ist nur recht und billig, dass Du ihr hier einen so großen Text widmest. Wie schön, dass Du sie kennen durftest.
Und jetzt heul ich auch. Klar.
Liebe, ey!
14:37h
Franziska sagt:
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14:46h
Liisa sagt:
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14:51h
Atomaffe sagt:
Puh.. Schön. Traurig.
15:14h
mona_lisa sagt:
Hier gibt es Omas Haus noch. Und ich hoffe, dass ich es erhalten kann. Sind so viele Erinnerungen drin und drumherum. Aber trotzdem - .
15:33h
felis sagt:
Eine schöne Homage, ein wunderbarer Text. Danke fürs Teilen.
15:34h
felis sagt:
+m :)
17:02h
corali sagt:
Mmmh… eine Geschichte, die mich zum Nachdenken bringt… Denn ich bin die junge Mutter in einer anderen Geschichte, die es nicht schafft – nicht schaffen kann – ihre Mutter und ihr Kind so nah zueinander kommen zu lassen. Jobs trennen sie. Zeitmangel. Die Entfernung zwischen zwei Orten. Unterschiedliche Vorstellungen vom Leben.
Und immer wieder ertappe ich mich bei dem Wunsch, dass doch meine Mutter die Distanz dauerhaft überwindet und näher zu uns zieht, da ihr Ort keine Arbeit für mich bietet.
Aber damit wünsche ich mir auch, dass sie das Haus aufgibt, für das sie seit Jahrzehnten arbeitet, das sie liebt, das ich liebe, da es das Haus meiner Kindheit ist.
Wahrscheinlich wird es so aber nie ein Haus der Erinnerung für mein Kind…
17:25h
Frank sagt:
Schöner Text, der mich an die Erinnerungen an meine Oma erinnert. Die war für mich auch Heimat. Link
18:46h
Hendrik sagt:
Sehr schöner Text! Danke dafür!
20:47h
Jott sagt:
Schau mal: Du schreibst so schöne, tolle, Geschichten. Könntest du das nicht wieder ein kleines bisschen öfter machen? Fänd ich schön.
22:16h
Paul Jonas sagt:
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20:03h
smiley sagt:
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21:42h
Katja sagt:
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13:18h
Baer sagt:
verlinkt:
http://www.d-fense.bplaced.net/natuerlicheperson/viewforum.php?f=29
schluchz!
20:04h
Marc sagt:
Ich wische mir die Tränen von der Wange und sammele meine Gedanken.
Danke für den traurig-schönen Text, der gleichzeitig ein Ausflug in meine Kindheit gewesen ist.
Zwar wohne ich 250 km von meinem Elternhaus entfernt, doch alle zwei, drei Monate kehre ich zu Besuch zurück und kann in stillen Momenten des Nachts in Erinnerungen schwelgen und meiner Kindheit - und Oma - gedenken.
19:20h
Wortschaetzchen sagt:
Großartig schön.
13:58h
Stella sagt:
Toll! Traurig! Schön! Ich habe meine Heimaten im Leben immer wieder verloren, mit neun Jahren zum ersten Mal, danach immer wieder. Ich hoffe, dass hier, wo ich jetzt bin, irgendwann Heimat wird, aber so ganz wird es das wohl nie. Doch durch das Weggehen erkenne und schätze ich Heimatliches an vielen Orten. Will sagen: Auf Deine Oma!
11:30h
San sagt:
Wunderschön. Ich hab diesen Blogeintrag vor 2 Jahren gelesen und nicht vergessen. Heute berührt er erneut. Danke!
19:16h
serotonic sagt:
Danke euch :)