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23. Jul 2013 Ein Rückschlag.
Ich höre ihn schon deutlich, obwohl ich ihn noch nicht sehen kann. Seine Stimme durchdringt die sommerwarme Abendluft, zerteilt sie und nimmt ihr den Frieden. Mein Blutdruck klettert an seiner Aggression empor, meine Nackenhaare stellen sich auf, und als die dazugehörige Szenerie in mein Sichtfeld gerät, schießt mir das Blut in die Ohren, rauscht durch mein Denken und dämpft seine Stimme. Er geht auf der anderen Seite der Straße entlang, mit ihm eine Frau und mehrere Kinder, deren Gesichter ich nicht sehe und deren Zahl ich nicht mehr zu erfassen in der Lage bin. Der einzige mir noch mögliche Fokus liegt auf dem kleinen Jungen, den er dicht vor sich hertreibt, über den Gehweg schiebt mit seiner Stimme und dem zur Drohung verformten Körper. Du reißt dich jetzt zusammen!
Seine Hand schnellt hoch, seine Hand holt aus, seine Hand schlägt zu. Sonst lernst du mich erst richtig kennen.
Der kleine Hinterkopf wird wie ein Spielzeug nach vorne geschleudert, zarte Beine machen schnelle Auffangschritte, stolpern sich in Sicherheit, und alles in mir erstarrt. Als ich ihm über die Straße hinweg zurufe, bin ich eine einzige Übersprunghandlung, blicke durch einen Tunnel aus Puls und Rot und Licht: Ob er weiß, dass er sein Kind nicht schlagen darf? Meine Stimme ist eine zitternde Karikatur ihrer selbst und viel zu schrill, um souverän zu wirken. Zwischen uns liegen nun ein Straßengraben, seine Dominanz und meine hilflose Wut, und er weiß, dass er von mir nichts zu befürchten hat. Ich solle mich nicht einmischen in seine Sache. Mein reflexhafter Versuch, mich sehr wohl einzumischen, scheitert an der Gegenwehr, die mir nun auch von anderen Passanten entgegenschlägt. Halt dich da raus!
Ein Hund bellt, ein Motorrad lärmt, mein Herz pocht; die Familie hat noch nicht einmal ihre Schritte verlangsamt, und auch meine Beine haben mich mechanisch weitergetragen. Die Situation geht einfach so an uns vorbei und ich fühle, dass ich versagt habe.
11:38h
Christian sagt:
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11:40h
Lilian sagt:
So etwas ist mir 2011 passiert und ich hatte darüber geschrieben: http://www.textzicke.de/hilfloses-zusehen-und-schaemen/
Eine widerwärtige, schreckliche Situation. Weil man so hilflos ist. Was auch immer man tut, es wird irgendwie falsch sein.
Du schreibst, als ob Du den Mann kennst. Ich weiß nichts über die "Vorgeschichte". Aber ich weiß, wie man sich als Außenstehende dabei fühlt. Scheiße.
11:58h
Susanne sagt:
Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie man sich in so einer Situation fühlt. Ich habe sie auch schon erlebt und ebenfalls darüber geschrieben. http://pyrolim.de/pyrocontra/2011/schmerzhafte-erziehung/ Unsere Erfahrungen zeigen zum einen, dass diese Art der Kindererziehung noch viel weiter verbreitet ist, als wir glauben. Und dass wir so hilflos sind. Wir fühlen uns schlecht, weil wir nichts tun können, dabei sollten sich solche Eltern schlecht fühlen. Aber sie sehen die Schmerzen und die Demütigung ihres Kindes nicht. Was bleibt, ist Hilflosigkeit auf vielen Seiten.
12:15h
Johannes Mirus sagt:
Wer in dieser Geschichte der Versager ist, ist ja wohl klar. Du hast Courage gezeigt, das ist mehr, als fast alle anderen Menschen in dieser Situation gemacht hätten. Und bedeutend mehr als die Arschlöcher, die ihn sogar noch in Schutz nehmen. (Echt jetzt, spätestens da verschlägt es mir die Sprache. Man sollte doch annehmen, dass durch das Eisbrechen deinerseits sich vielleicht noch jemand anderes traut, einzusteigen und dir zur Seite zu stehen. Aber ihn zu verteidigen? Ich kann ob all der Fassungslosigkeit nur mit dem Kopf schütteln.)
12:17h
Anna sagt:
Oh Mann, mir wird ganz schlecht beim Lesen. Schlimm ist ja nicht nur das Gefühl der Ohnmacht, sondern auch das Wissen darum, dass die Misshandlungen offenbar als selbstverständlich angesehen werden und deshalb höchst wahrscheinlich weiter gehen werden. Ich frage mich dann immer ganz bang, was solche Eltern mit ihren Kindern zu Hause machen, wenn sie sich schon in der Öffentlichkeit so unkontrolliert verhalten. Immerhin: du HAST etwas gesagt. Das ist doch schon mal was. Wie viele waren da drum herum und haben nicht mal verbal eingegriffen? Vielleicht hat dein Eingreifen wenigstens ein paar andere Menschen zum Nachdenken gebracht. Vielleicht sagt einer von denen bei der nächsten Situation auch etwas. Vielleicht hast du doch etwas bewirkt …?
12:24h
Hilli Knixibix sagt:
Das war toll von Dir. Du bist keine Versagerin, im Gegenteil.
12:58h
Pia sagt:
:’(
Was Johannes sagt.
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14:12h
serotonic sagt:
Lilian, puh. Da sind mir jetzt die Tränen gekommen. (Ich kenne ihn und die Vorgeschichte nicht, aber ich kenne das Stimmliche und Körperliche – und das, was hinter dem Gesichtsausdruck des Kindes verborgen lag.)
Susanne, »Unsere Erfahrungen zeigen zum einen, dass diese Art der Kindererziehung noch viel weiter verbreitet ist, als wir glauben.« Und wenn man daran denkt, wie viele solcher Familien sich »draußen« völlig unauffällig geben, wird einem nochmal ganz anders.
Johannes, ich sehe mein Versagen auch eher darin, in ein unsouveränes, hilfloses Reflexverhalten zurückgefallen zu sein, anstatt meine Stärken einzusetzen. Es ärgert mich einfach maßlos, dass es auch heute noch nur des Auftritts eines Cholerikers bedarf, um mich meiner Straightness zu berauben und über einen gewissen Punkt hinaus handlungsunfähig zu machen.
Und was die Passanten anbetrifft: Das trug sich in einem recht kleinen Ort zu; die Chance, dass die sich kannten, war also relativ hoch.
Anna, ich hoffe zumindest, dem kleinen Menschen Mut gemacht zu haben damit, dass jemand für ihn eingetreten ist.
Hilli Knixibix, Christian und Pia, Dankeschön :)
14:13h
Vorstadtpoetin sagt:
Beklemmend.
Ich habe auch eine ähnliche Situation erlebt, vor Jahren. Ich habe auch etwas gesagt und bekam zu hören "Geht dich nichts an, misch’ dich nicht ein", garniert mit drohender Faust.
Der Blick des Kindes verfolgt mich bis heute.
In selbiger Situation heute würde ich die Polizei anrufen und die Familie verfolgen, soweit eben möglich. Ernsthaft.
15:52h
serotonic sagt:
Hinterher hatte ich auch überlegt, dass es richtig gewesen wäre, die Polizei zu rufen – genug Zeugen für den Vorfall gab es schließlich. Es ging alles einfach viel zu schnell. (Vielleicht bin ich jetzt für das nächste Mal besser gewappnet.)
19:22h
Änni sagt:
Das tut mir fast körperlich weh. Ich bewundere deinen Mut, ich hätte ihn nicht. In solchen Situationen verstumme ich vor Angst.
21:14h
Monika sagt:
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Wie Christian. Nur schon dass Du reagiert hast. An den Feinheiten kann man dann noch feilen…
21:50h
Sabine sagt:
Nur wenige trauen sich, etwas zu sagen. Und für den Jungen ist sicherlich Dein "einmischen" mutmachend gewesen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sich immer auch selbst Mitschuld gibt am "geschlagen-werden".
Deine eigene Situation will sicherlich auch immer noch einmal angesehen bzw. wahrgenommen werden, so dass schon aus diesem Grund Deine Souveränität dahin war. Aussöhnung - Schuldgefühle/Wut/Hilflosigkeit abgeben, sind vielleicht ein Thema, wenn Du auch in Deiner Kindheit mit Gewalt konfrontiert warst.
Alles Gute für Dich
Sabine
22:11h
R. sagt:
Ich behaupte, ich bin recht behütet aufgewachsen. Funktionierendes Elternhaus, liebevolle Familie, Neid und Missgunst gibt es eher woanders. Trotzdem weiß ich, was das Kind empfindet. Eine Kindheit ist lang, und es gibt auch nicht nur Eltern darin. Da ist auch der alte Mann, der dich vom Fahrrad reißt, weil du mit 10 Jahren noch auf dem Bürgersteig gefahren bist, und dich damit am Bahnübergang beinahe ins Gleisbett befördert. Und auch die Situation, in der dann doch einem Erwachsenen die "Hand ausgerutscht" ist. Das Gefühl ist eines kompletter Ohnmacht. Voller Scham. Zorn. Alles zusammen.
Auf Erwachsenenseite ist der Schlag immer ein Zeichen für Hilflosigkeit. Jämmerlich ist es eigentlich, aber davon kann sich das Kind nichts kaufen. Meine Eltern erzählen bis heute davon, wie es ihnen in der Schule erging. Als die Prügelstrafe zum Beispiel noch Recht des Lehrers war. Oder wie das war, selbst in einem Haus aufzuwachsen, in dem fast die einzige Zuwendung in Gewalt bestand. Wie der Wunsch deshalb so groß war, es selbst alles besser zu machen. Wie es sie deshalb ehrlich schockiert hat, als sie erfahren mussten, dass es auch für sie eine Situation gab, wo sie die Kontrolle verloren. Auch wenn eine ehrliche Entschuldigung viel rettet: schon einmal ist einmal zuviel. Egal, wie gestresst man ist, was für Sorgen sonst man mit sich herumträgt.
Und so schwingt bei aller, beinahe maßloser Verachtung dem Mann gegenüber stets auch das Wissen mit, dass in jedem von uns die Saat für Gewalt steckt. Wütend werden kann auch ich, und gerade die Menschen, die uns am meisten bedeuten, erregen die stärksten Emotionen. Dieses Wissen ist es, das mir ständig über die Schulter blickt, zusammen mit der Erinnerung, wie sich die glühende Wange voll Schmerz und Scham und Wut anfühlt. Ich hoffe nur, selbst nie das Ziel dieses kindlichen Blicks zu werden, niemals die Kontrolle zu verlieren. Niemals zu versagen. Denn schon einmal ist einmal zuviel.
22:13h
Triffels sagt:
Liebe Serotonic,
vor wenigen Jahren befand ich mich noch selbst in der Situation des kleinen Jungen. Und einmal, einmal stellte auch eine junge Frau, es hättest Du sein können, meinen Vater zur Rede. Auch sie war trotz ihrer Tapferkeit ängstlich und unsicher und wurde von ihm niedergebrüllt. Obwohl wirkungslos, bin ich sehr froh um ihre Reaktion. Stellvertretend für sie möchte ich mich bei Dir bedanken, dafür, dass ihr nicht wegseht, wenn Unrecht geschieht. Danke!
10:16h
serotonic sagt:
Triffels, ich danke Dir.
(Es ist so schockierend, wie groß der Anteil derer ist, die so haben aufwachsen müssen.)
absolute serokratie am : Titeln wie der Express