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15. Nov 2012 Am Hofe des Groszkotzes
»Mist, verdammter!«
Anstatt ihrem Mann den Spaten hinunter in die Baugrube zu reichen, starrte Lieselotte etwas konsterniert auf das Fruchtwasser, das sich durchaus plötzlich auf das Süßgras zu ihren Füßen ergossen hatte. Es war 1938, und für einen Moment schwiegen sogar die Kohlmeisen, derart ungehörig schwebte der Fluch der werdenden Mutter über dem sonnengefluteten Tal. Und so kam es, dass Walter seine bildhübsche Tochter Friederike früher als erwartet im Arm halten und eine ihrer Locken liebevoll in Wachspapier einschlagen konnte, um sie im noch nackten Fundament seines Hauses zu verbergen. Wie Friederike, wuchs und gedieh auch das neue Heim vor der Zeit, so dass Walter noch einen ganzen Sommer mit seiner Familie verbringen konnte, bevor er beherzt in den Krieg zog und alsbald an einem verirrten Geschoss verstarb.
Eine solche Wendung der eigenen Geschichte hätte einem verzagteren Geiste sicher Angst und Schrecken eingejagt, doch Lieselotte wusste nicht nur, wie man plötzlich Leben schenkte, sondern auch, wie man aus der Not Tugenden gebar: Sie bestellte die Erde hinter der schützenden Mauer des kleinen Hofes, betrieb gewitzten Tauschhandel mit ihren wenigen Gütern und brachte sich und ihre Tochter mager, aber gesund durch die langen Kriegsjahre. Die Nachkriegszeit verging einigermaßen ereignislos, und nachdem Friederike jede Ecke des Hauses gleich hundertfach mit ihrem Lachen angefüllt hatte und von bildhübsch zu wunderschön herangewachsen war, verliebte sie sich in einen schicken Unternehmersohn, der sie kurzerhand vom Hof ihrer Kindheit in seine eigene Heimatstadt entführte und dort zum wohl glücklichsten Mädchen am Mittelrhein machte. Und als ob die Liebe ansteckend wäre, entdeckte auch Lieselotte, dass ihr Herz wieder frei war, und reichte ihre Hand einem abenteuerlustigen Handelsreisenden, in dessen Brust es in schönstem Einvernehmen ebenfalls wild puckerte. Gemeinsam verließen sie erst Sonnenberg, dann Wiesbaden und schließlich sogar das Land.
Die sechziger Jahre waren gerade erst angebrochen, und Haus und Hof sahen sich einigermaßen unerwartet damit konfrontiert, miteinander allein gelassen worden zu sein. Sattes Moos eroberte die Mauern, schmiegte sich an die Fenster und bemalte das Dach, wo es nur konnte, wilder Wein begann zu sprießen – überhaupt schickte sich die Natur während der folgenden Dekade an, aus einem einfachen Hof einen verwunschen Ort zu machen, wie er üblicherweise dem Pragmatismus tollwütiger Stadtplaner zum Opfer fällt. Doch glücklicherweise stieß der von Schöpfungskraft beseelte Rainer auf das verwaiste Bauwerk, als er im Rahmen eines sinnstiftenden Spazierganges über eine einsame Rebe stolperte, die sich ungeniert ihren Weg über den Gehsteig gebahnt hatte.
»Mist, verdammter!«, raunte der junge Grafikdesigner, der stadtweit als der Groszkotz bekannt war, und rieb sich erstaunt das wunde Knie. Nur kurze Zeit später und Kraft des Wunsches, ein Heim sein eigen zu nennen, restaurierten er und seine Verlobte Schritt für Schritt das Haus und machten sich daran, behutsam all den Wildwuchs zu zähmen. Barbara, die – wie es der Zufall wollte – ebenfalls ein Kind unter dem Herzen trug, liebte die Mauern, das Lachen und das Grün, sah aber davon ab, den Boden des Hofes erneut mit Fruchtwasser zu weihen; sie fütterte lieber die Kohlmeisen.
Und nachdem ein weiteres bildhübsches Mädchen geboren, aufgewachsen, ihrer Wege gegangen und alle Arbeit getan war, residierten sie glücklich und in Frieden, dort, am Hofe des Groszkotzes, wo auch heute gewissermaßen immer die Sonne scheint.
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07:55h
Etosha sagt:
Wunderschön gemalt! Mit so viel Liebe… Einfach toll!
17:08h
serotonic sagt:
Hach, Dankeschön. Für’s Seelchen puscheln. Und eh für Alles.
11:30h
grosz_otz sagt:
Herzlichen Dank für dieses zweite Leben…
17:00h
serotonic sagt:
Es war mir eine Ehre!